Ein Teil des Ganzen
744 ist der erste Neubau auf dem sich schrittweise wandelnden Fabrikareal Viscosistadt in Emmenbrücke bei Luzern. Er fügt sich diskret, doch selbstbewusst in den Bestand ein und beherbergt Unterrichtsräume, Ateliers und Werkstätten der Hochschule Luzern – Design & Kunst (HSLUDK). Das sorgt er für Kontinuität und Beständigkeit.
Lange war das dicht bebaute Industrieareal des Textilunternehmens Viscosuisse (heute Monosuisse) für Unbefugte nicht betretbar. Vor rund 10 Jahren hat sich das zentral gelegene, gut erschlossene Gebiet zwischen der Kleinen Emme und der alten Hauptstrasse von Luzern ins Schweizer Mittelland geöffnet. Nun wird es in kleinen Schritten einer gemischten Nutzung zugeführt. Die heutige Eigentümerin Viscosistadt AG gebietet hier über eine Fläche von 89‘000 Quadratmetern. Das entspricht in etwa der Ausdehnung von Luzerns Altstadt. Es soll in der Viscosistadt fortan nicht mehr nur gearbeitet, sondern auch gelernt, geforscht und gewohnt werden. Der Wandlungsprozess folgt einem Masterplan des Architekturbüros EM2N aus Zürich.
Für die erste Transformationsphase fand die Viscosistadt AG in der HSLUDK eine Partnerin. Diese entschloss sich, ihre in der Stadt Luzern verstreuten Standorte auf dem Areal in Emmenbrücke zu konzentrieren. EM2N transformierte den fünfgeschossigen Industriebau 745 in ein Unterrichts- und Forschungsgebäude mit grosszügigen Gemeinschaftsflächen, Ateliers und hochmodernen Film- und Tonstudios. Die Baustruktur liegt offen, Oberflächen blieben erhalten; Spuren der industriellen Vergangenheit sind auf Schritt und Tritt wahrnehmbar. Viscosistadt 745 konnte 2016 bezogen werden.
Mit der Fertigstellung des südlich anschliessenden Neubaus 744 im Frühling 2019 lassen sich jetzt alle Raumbedürfnisse der HSLUDK in der Viscosistadt abdecken. Das Projekt ist das Resultat eines wettbewerblichen Dialogs, aus dem Harry Gugger Studio Ltd aus Basel siegreich hervorging. Zwei kleinere Nebenbauten mussten dafür weichen. Die Volumetrie folgt den Vorgaben des Masterplans, mit dem Versatz gegenüber dem HSLUDK-Hauptgebäude 745 wird die bestehende Ordnung respektiert. Die Geschosshöhen des Nachbarn wurden übernommen, die beiden Trakte bilden eine durchgängige Einheit.
Harry Gugger Studio reagierte auf diese Ausgangslage mit der Schaffung eines flexibel nutzbaren Zweckbaus. Die Struktur gliedert sich in Atelierbereiche entlang den Fassaden und eine Mittelzone, in die sich aufgrund der grossen Raumhöhen Zwischengeschosse für Galerien und Nebennutzungen einfügen liessen. Zwei geräumige, von Lichtschächten flankierte Treppenaufgänge schliessen diese Mittelzone ab. Die Konstruktion aus Ortbeton und vorfabrizierten Decken und Stützen ermöglicht eine grosse Flexibilität der Raumgliederung, mitunter sind auch «Durchschüsse» von der Längsfassade am Ufer der Emme bis zu jener in der engen Industriegasse gegenüber möglich.
Die Fassade erweist der hohen und stringenten gestalterischen Qualität der Bestandesbauten ihre Reverenz; wie bei diesen dienen Lisenen als
Gliederungselement. Im Falle des Neubaus 744 bestehen sie aus stranggepressten Aluminiumprofilen. Mit jedem Geschoss findet bei diesen Lisenen und den Brüstungen aus eloxiertem Naturaluminium mit zunehmender Höhe ein Versatz nach aussen statt. So wird der optische Effekt der «stürzenden Linien» vermieden.
Dieser zurückhaltende Veredelungsschritt deutet weitherum sichtbar an, dass in der Viscosistadt eine neue Ära angebrochen ist. Doch ansonsten wirkt das Gebäude neutral – bis hin zu der fast vollständigen Absenz von Farben. So lässt es sich von den Nutzerinnen und Nutzern frei bespielen. Die HSLUDK wird unter anderem im Neubau 744 die Materialbibliothek für Pigmente und Farbstoffe unterbringen. Vor dem Hintergrund dieser Architektur werden sich mit ihr spektakuläre Effekte erzielen lassen.